Die yama als ethischer Kompass im gesellschaftlichen Spannungsfeld - Teil 1
Text: Lisa Crone
Veröffentlicht im Deutschen Yoga-Forum Heft 1/2025

Die yama, aus einer tantrischen und integralen Perspektive betrachtet, können hilfreiche Wegweiser sein, die Yoga-Philosophie von der Matte runter - und aus dem philosophischen Elfenbeinturm herauszuholen. Als grundlegende ethische Prinzipien, geben sie uns Orientierung für ein konstruktives und verantwortungsvolles Miteinander in einer Welt voller sozialer, ökologischer und kultureller Herausforderungen. Die yama laden uns ein, die kognitive Ebene zu verlassen und uns in Schwierigkeiten einzufühlen. Sie öffnen inspirierende und reichhaltige Räume, in denen wir ehrlich reflektieren, uns auf Augenhöhe begegnen und ein empathisches und mitfühlendes Miteinander gestalten können.
Bei der Aufarbeitung meiner afrodeutschen Familiengeschichte und der damit einhergehenden Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Diskriminierungsformen, habe ich festgestellt, dass große Veränderungsprozesse, wie z.B. die Afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung, die Frauenrechtsbewegung oder auch die Behindertenrechtsbewegung, von Menschen ausgingen, die über Generationen viel Leid erfahren und trotzdem die Kraft gefunden haben, nicht daran zu verzweifeln. Diese Kraft beinhaltete immer eine spirituelle Komponente und den festen Glauben an Verbundenheit, Mitgefühl und das Ziel ein gutes und gleichwertiges Leben für alle zu ermöglichen. Ich finde als westliche Yogapraktizierende, können wir einiges von diesen Bewegungen lernen, z. B. wie wir die unterschiedlichen Aspekte der Yoga-Philosophie im täglichen Leben kultivieren und sie als Leitfaden für unsere eigene innere Arbeit nutzen können, sowohl auf individueller als auch kollektiver Ebene.
Um unser Bewusstsein zu öffnen und zu weiten, ist es notwendig die Wirklichkeit aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und uns buchstäblich in die Schuhe der anderen zu stellen. Wenn wir die tantrische und integrale Philosophie beim Wort nehmen, dann finden wir nachhaltigen inneren Frieden und Erfüllung erst dann, wenn wir bereit sind unsere Keller aufzuräumen. Laut Sri Aurobindo macht es keinen Sinn vor der Unbewusstheit, dem Leid und dem Übel zu fliehen. Im Gegenteil, nur dort „auf dem Grund des Todes, der Unbewusstheit und des Übels“ finden wir „den Schlüssel zum göttlichen Leben“. (1) Deshalb glaube ich, dass wir besonders viel von Menschen lernen können, denen über Jahrhunderte schlimmstes Leid zugefügt wurde, aber nur wenn wir bereit sind auch unseren Anteil daran anzuerkennen und aufzuarbeiten.
Thomas Hübl antwortete in einem Interview auf die Frage, was für ihn Weisheit bedeute, „wieviel Welt wir in uns beheimaten können“. (2) Also wieviel von der äußeren Welt – von der wir uns getrennt fühlen – können wir in uns aufnehmen und wie gehen wir damit um, wenn wir dadurch mit unangenehmen und schmerzhaften inneren Spannungen konfrontiert werden, die ihren Ursprung in unserer Vergangenheit und daraus resultierenden Prägungen (samskara) haben. Thomas Hübl sagt auch, dass die Gegenwart der Ort ist, wo die Vergangenheit in das Jetzt umgewandelt wird. In diesem Sinne wünsche ich mir für die westliche Yogaszene mehr Räume, in denen wir unsere Geschichte ehrlich reflektieren und diese wichtige individuelle und auch kollektive Aufarbeitungsarbeit leisten. Nur so können wir die Tiefe unseres Daseins ergründen und uns weiterentwickeln. Ohne das „Sein“ schaffen wir das „Werden“ nicht, schreibt Satprem und wir lösen unser Gefühl des Getrennt-Seins nicht im Kopf und mit „philosophischen Begriffen“ sondern „im Begreifen des Lebens und der Kraft zu handeln“. (1) Wir sind alle ein Teil des großen Ganzen und miteinander verbunden. Wir atmen die Luft unserer Vorfahren. Deshalb sollten wir aufhören so zu tun, als ob die Lebenswelten der anderen nichts mit uns zu tun hätten. Wir müssen die Geschichte der anderen in uns aufnehmen, um unsere eigene zu verstehen. Diese Artikelreihe soll ein kleiner Beitrag dazu sein und so werde ich mich in jedem Text mit einem yama und einer Diskriminierungsform beschäftigen. Denn alle Diskriminierungsformen haben ihren Ursprung in der Vergangenheit.
Von ahimsa lernen: Respekt und Inklusion statt Ableismus
Vor kurzem habe ich ein Interview mit einem Rollstuhlfahrer gelesen. Er erzählte von der Situation in öffentlichen Gebäuden und dem Schild an Fahrstühlen: „Im Brandfall nicht benutzen!“. Ich hatte den Satz noch nicht zu Ende gelesen, als mir schlagartig bewusstwurde, worüber ich bis dahin noch nie nachgedacht hatte. Was macht eine Person mit Rollstuhl, wenn es brennt und sie den Fahrstuhl nicht benutzen darf? Hat das irgendjemand bei der Planung berücksichtig? Ist das irgendeiner nicht-behinderten Person aufgefallen? Ich selbst habe dieses Schild schon so oft gelesen und mir keinerlei Gedanken darüber gemacht. Dieser Moment war für mich wie eine kleine „Erleuchtung“, ein Moment der Bewusstwerdung. Seit vielen Jahren setze ich mich nun schon mit ahimsa und dem Aspekt des Nicht-Verletzens auseinander, meistens auf der individuellen Ebene; ich esse vorwiegend vegan, versuche mich so gut es geht umweltbewusst zu verhalten und habe mich in gewaltfreier und achtsamer Kommunikation weitergebildet. Aber in diesem Moment wurde mir noch einmal klarer, wie tief die Diskriminierung von marginalisierten Gruppen in unseren Strukturen steckt.
Um das zu verändern, müssen wir Menschen mit Behinderungen mehr zuhören, damit wir uns in ihre Lebensrealitäten einfühlen und Verständnis dafür entwickeln können. Ich ertappe mich manchmal selbst dabei, wie ich Menschen auf ihre Behinderung reduziere und dadurch nicht erkennen kann, welche Fähigkeiten und Sichtweisen sie mitbringen, die mir – einer nicht-behinderten Person – fehlen. Für mich persönlich ist diese Auseinandersetzung augenöffnend und bereichernd, weil ich neue Perspektiven kennenlerne und gleichzeitig etwas über mich selbst erfahre. Dadurch fühle ich mich mehr verbunden mit – und weniger getrennt von der Welt. Der Inklusionsaktivist Raúl Krauthausen betont, dass die Dimension Behinderung beim Thema Diversität in der Regel als letzte genannt oder als erste vergessen wird. (3) Und ja, wenn ich so auf mein Leben blicke, habe und hatte ich kaum Berührungspunkte mit Menschen mit Behinderungen, was dazu geführt hat, dass ich nur wenig über ihre Lebensrealität weiß.
Gleichzeitig gewinnen die Begriffe ahimsa und Ableismus in unserer heutigen Gesellschaft immer mehr an Bedeutung – nicht nur als isolierte Konzepte, sondern als Prinzipien, die das Zusammenleben in einer inklusiven und respektvollen Gesellschaft prägen sollten. Ahimsa wird oft mit Mitgefühl und Respekt für alles Leben gleichgesetzt und Ableismus bezeichnet die Diskriminierung oder Benachteiligung von Menschen aufgrund von körperlichen, kognitiven oder psychischen Beeinträchtigungen. Die Verbindung dieser beiden Konzepte kann uns helfen, die tief verwurzelten, oft unsichtbaren Formen von Gewalt und Diskriminierung gegenüber Menschen mit Behinderungen besser zu erkennen und Wege zu finden, diese als Gesellschaft – von der wir alle ein Teil sind – zu überwinden.
Ahimsa: Gewaltlosigkeit als ethische Grundhaltung
In der hinduistischen, buddhistischen und jainistischen Philosophie bedeutet ahimsa weit mehr als bloße Abwesenheit von körperlicher Gewalt. Ahimsa fordert auch, andere weder emotional, psychisch noch strukturell zu verletzen. Es geht darum, alle Lebewesen zu respektieren und zu vermeiden, anderen Schaden zuzufügen – bewusst oder unbewusst. Diese Prinzipien sind eng mit dem Verständnis von seva, dem selbstlosen Handeln und karuna, dem Mitgefühl verbunden.
Wenn wir ahimsa als Leitprinzip für unsere Beziehungen und das soziale Miteinander verstehen, erkennen wir, dass Gewalt oft subtil und unterschwellig sein kann. Hier ist das Konzept der strukturellen Gewalt von Bedeutung, welches tief in Systemen und sozialen Normen verwurzelt und historisch gewachsen ist. Hier kommt die Verbindung zum Ableismus ins Spiel.
Ableismus: Eine unsichtbare Form von Gewalt
Ableismus beschreibt eine Haltung und gesellschaftliche Struktur, die Menschen mit Behinderungen als weniger wertvoll, kompetent oder fähig ansieht. Diese Annahmen führen oft zu unbewussten Verhaltensweisen und Denkmustern, die Menschen mit Behinderungen in ihrer Selbstbestimmung, ihrem Selbstwertgefühl und ihrer gesellschaftlichen Teilhabe einschränken. Der Begriff Ableismus leitet sich vom englischen Wort „able“ ab, was „fähig“ oder „imstande“ bedeutet. Das Suffix „-ismus“ deutet auf eine ideologische oder strukturelle Haltung hin, wie bei Rassismus oder Sexismus. Der Begriff wurde im Rahmen der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung „Disability Rights Movement“ geprägt, die ihren Ursprung in den 1960er Jahren hat und sich für die Rechte und Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen einsetzt. Ableismus benennt eine spezifische Form von Unterdrückung, die auf der Ideologie basiert, dass bestimmte Körper und Fähigkeiten „normal“ und daher besser seien. Es geht aber gerade darum, gesellschaftliche Normen und Machtstrukturen kritisch zu hinterfragen, die Menschen mit Behinderungen benachteiligen.
Ableismus erkennen
Ableistische Diskriminierung zeigt sich in der Sprache, in vermeintlich gut gemeinten Ratschlägen und Kommentaren, aber auch im Zugang zu Bildung, Arbeitsplätzen, öffentlichen Einrichtungen und Freizeitangeboten. Ableismus kann subtil sein, wie zum Beispiel in Aussagen, die Menschen auf ihre Behinderung reduzieren: „Sie macht das so gut, trotz ihrer Behinderung!“. Dazu gehört auch, einer Person mit Behinderung ohne ihr Einverständnis zu helfen, was herabwürdigend und übergriffig sein kann. Ein weiteres Beispiel ist der Mangel an barrierefreien Zugängen, wodurch ganz konkret die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen missachtet werden. Diese Art von struktureller Gewalt ist besonders gravierend, weil sie oft unbewusst geschieht und gesellschaftlich akzeptiert oder gar legitimiert ist. Doch jede Form von Ableismus, ob subtil oder offensichtlich, widerspricht den Prinzipien von ahimsa und verdient eine kritische Reflexion. Hier sind auch wir Yogalehrende gefragt, uns ehrlich anzuschauen, wie wir über Menschen mit Behinderungen denken und wie zugänglich unsere Yoga-Angebote für sie sind.
Ahimsa im Kontext von Ableismus: Gewaltlosigkeit und Respekt im Alltag
Die Philosophie von ahimsa bietet einen wertvollen Rahmen, um Ableismus entgegenzuwirken und eine respektvolle und inklusive Gesellschaft zu schaffen. Hier sind einige Ansätze, wie ahimsa im Kontext von Ableismus konkret angewendet werden kann:
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Bewusstwerdung, Reflexion und Weiterbildung
Yoga ist Bewusstseinsschulung und ahimsa beginnt im Geist. Wir müssen uns unsere privilegierte Position als nicht-behinderte Menschen vergegenwärtigen und Denkmuster und Vorurteile reflektieren, um herauszufinden, wie diese unser Verhalten beeinflussen. Sich selbstkritisch zu hinterfragen und offen zu sein für das Feedback von Menschen mit Behinderungen ist ein erster Schritt, um gewaltlose Kommunikation und Begegnung zu fördern.
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Vermeidung von Mikroaggressionen
Viele Menschen erleben Mikroaggressionen: kleine, oft unbewusste Kommentare oder Handlungen, die Menschen mit Behinderungen herabsetzen. Ahimsa erinnert uns daran, bevor wir handeln uns selbst zu fragen: „Trage ich durch meine Worte oder Handlungen zum Wohl dieser Person bei, oder schränke ich sie ein? Nehme ich sie wirklich ernst?“ Um beim oben genannten Beispiel, mit dem ungefragten Helfen zu bleiben, könnte ich die Person erstmal fragen, ob sie Hilfe benötigt und ihre Antwort abwarten und respektieren.
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Förderung von Barrierefreiheit und Inklusion
Ein wichtiger Aspekt der Gewaltlosigkeit gegenüber Menschen mit Behinderungen, ist die Bereitstellung von Ressourcen und Möglichkeiten zur selbstbestimmten Teilhabe. Dies bedeutet, dass wir in unseren Schulen, Arbeitsplätzen, öffentlichen Einrichtungen und Freizeitangeboten Barrieren abbauen und eine Umgebung schaffen, die allen Menschen gerecht wird. Barrierefreiheit und die Möglichkeit zur Teilhabe sind grundlegende Menschenrechte. Seit 2009 gilt in Deutschland die UN-Behinderten-Rechts-Konvention. Leider geht die Umsetzung nur schleppend voran. (4)
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Respekt vor Autonomie und Selbstbestimmung
Ein zentrales Prinzip von ahimsa im Umgang mit Menschen mit Behinderungen, ist der Respekt vor deren Autonomie. Häufig geschieht Hilfe und Integration mit besten Absichten, jedoch oft ohne die Bedürfnisse, Wünsche, Ideen und Lösungsvorschläge der Betroffenen einzubeziehen. Es wird häufig über sie, anstatt mit ihnen gesprochen. Wahre Gewaltlosigkeit bedeutet, die Autonomie der anderen Person zu respektieren, ihr zuzuhören und ihr die Kontrolle über das eigene Leben zu überlassen. Dafür müssen Menschen mit Behinderungen, als gleichberechtigte Mitglieder, bei der Planung und Gestaltung unseres Zusammenlebens und unserer Strukturen beteiligt werden.
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Verwendung einer gewaltlosen und inklusiven Sprache
Sprache formt Realität und ist ein wichtiger Schritt zur Bewusstwerdung. Eine gewaltlose Kommunikation vermeidet abwertende Begriffe oder Ausdrucksweisen und respektiert die Würde des Gegenübers. Es ist wichtig, sich an die Präferenzen von Menschen mit Behinderungen zu halten, indem wir beispielsweise fragen, wie sie angesprochen werden möchten (siehe Literaturangabe). (5)
Ahimsa als Weg zur inklusiven Gesellschaft
Ahimsa lehrt uns, Verantwortung für die Art und Weise zu übernehmen, wie wir mit Menschen und Lebewesen umgehen. Im Kontext von Ableismus geht dies über bloße Höflichkeit hinaus und wird zu einem Akt bewusster Solidarität und Inklusion. Ahimsa erinnert uns daran, dass unser Handeln, selbst wenn es gut gemeint ist, manchmal Schaden anrichten kann, wenn es aus einer ableistischen Sozialisierung und Denkweise heraus entsteht. Gewaltlosigkeit im Umgang mit Menschen mit Behinderungen bedeutet, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen, ihre Perspektive und Erfahrungen ernst zu nehmen und sie aktiv und gleichberechtigt an Entscheidungsfindungen und Gestaltungsprozessen zu beteiligen.
Wenn wir ahimsa als Grundlage für unseren Umgang mit Menschen mit Behinderungen wählen, schaffen wir nicht nur ein Umfeld frei von körperlicher und verbaler Gewalt, sondern auch ein soziales Klima, das echte Gleichwertigkeit und Respekt fördert. Ahimsa ist in diesem Sinne ein Aufruf zur Veränderung – ein Weg, auf dem wir uns von alten Denkmustern lösen und eine wirklich gewaltfreie, inklusive Gesellschaft anstreben können. Dieser Weg erfordert Geduld, Offenheit, ehrliches Interesse und die Bereitschaft, immer wieder über Privilegien und das eigene Verhalten nachzudenken. Aber er führt uns letztlich zu einem Leben in Mitgefühl, Respekt, Gerechtigkeit und echter Vielfalt – und mit jedem Schritt auf diesem Pfad, entdecken wir ein Stückchen mehr Welt, das wir in uns beheimaten können.
Bild: Tim Mossholder | unsplash.com
Literatur & Quellen
- (1) Satprem: Sri Aurobindo oder Das Abenteuer des Bewusstseins: Hinder + Deelmann Verlag 2010
- (2) Hielscher, Mathias: Thomas Hübl – Was ist Weisheit?: Podcast-Link: https://hotelmatze.podigee.io/424-thomas-hubl
- (3) Krauthausen, Raúl: Im Aufzug mit Aladin El-Mafaalani: Podcast-Link https://im-aufzug.de/im-aufzug-mit-aladin-el-mafaalani/
- (4) www.andererseits.org/inklusion-menschenrecht/
- (5) https://leidmedien.de/begriffe-ueber-behinderung-von-a-bis-z/
- Gersdorff, Anne und Sturm, Karina: Stoppt Ableismus! Diskriminierung erkennen und abbauen: Rowohlt Verlag 2024
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