Yama und Niyama - Die ethischen Grundregeln im Yoga

Text: Lisa Crone

Yama und Niyama - Die ethischen Grundregeln im Yoga

In der modernen Welt, in der Stress, Hektik und Unruhe oft den Alltag bestimmen, suchen viele Menschen nach Wegen, um innere Balance und Zufriedenheit zu finden. Yoga bietet nicht nur körperliche Übungen, sondern auch tiefgehende ethische Leitlinien, die uns dabei helfen können, ein erfülltes und harmonisches Leben zu führen. Zwei zentrale Konzepte in der yogischen Philosophie sind die yama und niyama. Diese ethischen Prinzipien bilden das Fundament des ashtanga yoga, das von Patanjali in den "Yoga Sutras" beschrieben wird.

Was sind die yama und niyama?

Die yama und niyama sind die ersten beiden Glieder des achtfachen Pfades (ashtanga) des Yoga. Während yama die sozialen und ethischen Regeln für den Umgang mit der Außenwelt beschreibt, konzentriert sich niyama auf die persönlichen Disziplinen und Praktiken. Sie beschreiben das Gleichgewicht zwischen dem Handeln unserer Umwelt gegenüber und dem Handeln uns selbst gegenüber. Sie laden uns ein, auch im Alltag achtsam zu sein und das, was wir auf der Yogamatte lernen, wahrnehmen, betrachten und üben, auch in unser tägliches Leben zu integrieren.

 

Bei den yama und niyama geht es nicht darum, Ge- oder Verbote im moralischen Sinne zu befolgen, sondern eine innere, aus der Tiefe heraus entstehende Haltung zu kultivieren. Sie sind eine Einladung zur Reflexion, um eigene Verhaltensweisen zu beobachten und zu hinterfragen und unser Bewusstsein zu öffnen und zu weiten.

 

Yama bedeutet "Enthaltung, Selbstkontrolle". Mit den yama beschreibt Patanjali fünf Eigenschaften, die unsere Beziehung zu allen fühlenden Wesen und der Natur beleuchten: ahimsa - Nicht-Verletzen, satya - Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit, asteya - Nicht-Stehlen, brahmacharya - Enthaltsamkeit und aparigraha - Nicht-Horten, Nicht-Anhaften.

 

Niyama bedeutet "Notwendigkeit, innere geistige Disziplin". Mit den niyama beschreibt Patanjali fünf Eigenschaften, die unsere Beziehung zu uns selbst beleuchten: shauca - Reinheit, Klarheit, santosha - Genügsamkeit, Zufriedenheit, tapas - Bemühung, Leidenschaft, svadhyaya - Selbststudium und ishvara pranidhana - Hingabe an "das Göttliche" (eine allumfassende Lebenskraft).

Yama - Die ethischen Regeln

Ahimsa (Nicht-Verletzen)

Gewaltlosigkeit gegenüber allen Lebewesen und der Natur in Gedanken, Worten und Taten.

 

Mögliche Übungen

 

Individuelle Ebene:

Achtsam mit den eigenen Grenzen umgehen, sowohl auf der Yogamatte, als auch im Alltag. Selbstmitgefühl kultivieren.

 

Gesellschaftliche Ebene:

Empathie und Mitgefühl für andere Lebensrealitäten und Perspektiven kultivieren. Ahimsa lädt uns ein zu überlegen, wie unsere täglichen Handlungen andere Menschen und Lebewesen beeinflussen.

Satya (Wahrhaftigkeit)

Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit bei allem, was wir sagen und tun.

 

Mögliche Übungen

 

Individuelle Ebene:

Auf der Yogamatte ehrlich mit den eigenen Möglichkeiten und Voraussetzungen umgehen und im Alltag ehrlich eigene Verhaltensweisen reflektieren.

 

Gesellschaftliche Ebene:

Mutig zu eigenen Sichtweisen, Emotionen, Gedanken, Worten und Taten stehen und im Rückhalt der eigenen Wahrheit und Empfindungen leben.

Asteya (Nicht-Stehlen)

Respekt für das Eigentum anderer und das Vermeiden jeglicher Form von Stehlen oder Aneignung. Asteya wird unterschiedlich interpretiert. Es meint den tatsächlichen Diebstahl materieller und geistiger Güter. Gleichzeitig bedeutet es auch, dem Sog zu widerstehen materiellen Überfluss anzuhäufen, da aus yogischer Sicht, uns diese oberflächliche Wunscherfüllung vom Streben nach einer tiefen inneren Zufriedenheit ablenkt.

 

Mögliche Übungen

 

Individuelle Ebene:

Einen achtsamen Umgang mit dem Impuls des "Haben-Wollens" pflegen und das eigene Konsumverhalten immer wieder hinterfragen. Auf der Yogamatte und im täglichen Leben, sich nicht mit anderen vergleichen.

 

Gesellschaftliche Ebene:

Fragen, die wir uns als Gesellschaft stellen sollten: Welche Formen von Diebstahl (z.B. Zeit, Ideen, Geld) existieren in der Gesellschaft? Wie gehen wir mit den Ressourcen und Kulturgütern aus anderen Regionen um? Wie kann Konsum nachhaltig gestaltet werden?

Brahmacharya (Enthaltsamkeit)

Selbstkontrolle und Mäßigung bei allem, was wir konsumieren. Ursprünglich ist damit die sexuelle Enthaltsamkeit gemeint, eine zeitgemäße Auslegung wäre, einen maßvollen Umgang mit den eigenen Bedürfnissen zu pflegen und sich nicht von Extremen mitreißen zu lassen. Es geht darum, die richtige Balance (Mitte) zwischen Genuss und Verzicht zu finden.

 

Mögliche Übungen

 

Individuelle Ebene:

In der Yogapraxis Übergänge bewusst wahrnehmen, die Mitte zwischen zwei Bewegungen, Atemzügen oder Gedanken erspüren. Diese Übung fördert die Achtsamkeit für die eigene Impulskontrolle, was uns auch im alltäglichen Leben hilft, eigene Gefühle, Emotionen und Bedürfnisse wahrzunehmen, zu reflektieren und einen guten Umgang damit zu finden.

 

Gesellschaftliche Ebene:

Brahma wird mit "das Allumfassende", "das Universelle" oder auch "der Weite" übersetzt. Die Yogaphilosophie beinhaltet, dass wir alle Teil dieses großen Ganzen sind und alles mit allem in Verbindung steht. Deshalb hat unser Handeln auch immer eine Wirkung auf andere. Dieses Bewusstsein sollte in unser Tun mit einfließen.

Aparigraha (Nicht-Horten, Nicht-Anhaften)

Wir leben in einer Gesellschaft, in der sehr viel angehäuft wird, wie zum Beispiel materielle Güter, Informationen und Macht. Die Aufgabe besteht darin herauszufinden, was wir im Leben wirklich brauchen und welche Motivation hinter unserem Handeln steht.

 

Mögliche Übungen

 

Individuelle Ebene:

Auf der Yogamatte geht es nicht darum, viele verschiedene und spektakuläre asana zu praktizieren, sondern vielmehr um die Qualität der eigenen Yogapraxis. Im Alltag immer wieder hinterfragen, warum wir etwas tun und was uns antreibt (z.B. Tun wir etwas, weil es uns Freude bereitet oder weil wir dafür viel Lob ernten?).

 

Gesellschaftliche Ebene:

Aparigraha hilft uns zu überprüfen, wie bereit wir sind, unsere Privilegien, unseren Wohlstand, unsere Macht und Deutungshoheit mit anderen zu teilen. Welchen Preis hat unser Reichtum für andere?

Niyama - Die persönlichen Disziplinen

Saucha (Reinheit, Klarheit)

Gemeint ist sowohl die äußere Reinheit (sauberer Übungsplatz, saubere Kleidung, sauberer Körper), als auch die innere Reinheit der Gedanken, Gefühle, des Herzens und der Motivation aus der heraus wir etwas tun.

 

Auf der Yogamatte können wir kriya (Reinigungsübungen), pranayama (Atemkontrolle), Meditation und Achtsamkeitsübungen praktizieren, um den Geist zu beruhigen und zu klären. Im Alltag immer wieder die eigene Mediennutzung (Fernsehen, Internet, Social Media) überprüfen und bewusste Pausen zum Innehalten einlegen.

Santosha (Zufriedenheit)

Santosha meint eine innere Zufriedenheit und Dankbarkeit, mit dem was man hat, was man ist und was man lebt, ohne dafür einen besonderen Grund zu haben.

 

In der Yogapraxis lädt santosha dazu ein, sich realistische Ziele zu setzen, sich auch über kleine Erfolge zu freuen, Rückschläge anzunehmen und zuversichtlich und mit Vertrauen in die Zukunft zu blicken. Im Alltag können wir darauf achten, uns immer wieder über vermeintlich kleine und alltägliche Dinge zu freuen.

Tapas (Disziplin)

Tapas beschreibt die Beharrlichkeit und das Engagement in der Yogapraxis und im Leben. Es ist das innere Feuer, das "Brennen" für ein Thema, die Leidenschaft und Neugier, die uns zum Handeln antreibt und mit der wir Dinge tun.

Svadhyaya (Selbststudium)

Traditionell wird darunter das Studium der klassischen Schriften Indiens verstanden, die zur Selbsterkenntnis beitragen (z.B. Veden, Upanishaden, Patanjali Yoga Sutra und Bhagavad Gita). Im weiteren Sinne kann aber auch andere philosophische und inspirierende Literatur dazugezählt werden, die uns dabei hilft, Erkenntnisse über uns und unser Leben zu finden und die zur Selbsterforschung einlädt.

Ishvara Pranidhana (Hingabe)

Vertrauen und Hingabe an eine allumfassende (Lebens-)Kraft, die alles durchdringt und die alles mit allem verbindet. Ishvara ist der Samen der höchsten Erkenntnis und pranidhana ist die Hinwendung an ihn und die Tatsache, dass wir mit unserem menschlichen Verstand nicht alles erschließen können, so wie wir uns auch Unendlichkeit nicht vorstellen können. Im alltäglichen Leben können wir diesen Aspekt mit einfließen lassen, indem wir Dinge mit Hingabe, einer gewissen Demut und dem Wissen tun, dass es eine universelle Kraft gibt, die größer ist, als wir selbst und von der wir gleichzeitig ein Teil sind.

Innere harmonie und Gemeinschaftssinn

Die Prinzipien von yama und niyama bieten einen klaren ethischen Rahmen, der sowohl individuell als auch gesellschaftlich anwendbar ist. Durch die bewusste Integration dieser Prinzipien in unser tägliches Leben, können wir nicht nur inneren Frieden und Zufriedenheit finden, sondern auch zu einer harmonischeren und gerechteren Welt beitragen. Die yama und niyama geben uns die Möglichkeit, uns gleichermaßen für uns selbst und für andere Lebensrealitäten zu öffnen und unser Handeln so auszurichten, dass es allen gut geht.


Bild: Baschi Bender

 

Literatur zum Vertiefen:

  • Blitz, Gérard: Der Yogaweg des Patanjali - Ein kleiner Leitfaden für Übende und Lehrende: Verlag Via Nova 2008
  • Trökes, Anna: Die kleine Yogaphilosophie - Grundlagen und Übungspraxis verstehen: O.W. Barth Verlag 2013
  • Sriram, R.: Patanjali - Das Yogasutra: Theseus Verlag 2006
  • Ravindra, Ravi: The wisdom of Patanjali's Yoga Sutras: The Theosophical Publishing House 2012