Text: Lisa Crone
Wir wohnen direkt neben einem kleinen Stadtteilbahnhof in Freiburg, wo immer wieder Leute stranden, weil sie auf dem Weg zum Hauptbahnhof, aus Versehen, eine Station zu früh aussteigen.
An einem kalten Vormittag im November, war ich auf dem Weg zur Physiotherapie. Als ich das Haus verließ, sah ich am Bahnsteig einen jungen Mann, ohne Winterjacke, nur mit einer dünnen Fleecedecke um die Schultern gelegt. Ich dachte mir nichts weiter dabei und hatte es auch etwas eilig. Ich ging in die Garage, wo mein Fahrrad stand, und als ich das Garagentor öffnete, sprach mich ein älterer Mann an, ob ich „den Schwarzen da oben öfter hier sehen würde?“. Ich fragte ihn, warum er das denn wissen wolle und er antwortete: „Das ist bestimmt ein Illegaler, die kommen gerade alle aus der Schweiz“. Dann fing er an, ganz geschäftig auf sein Handy zu tippen und ich fragte ihn, was er denn vorhat und er meinte, dass er die Polizei verständigt.
Jetzt hatte ich ein ungutes Gefühl, aber musste zu meinem Termin. Ich lief zurück ins Haus und bat meinen Mann, die Situation im Blick zu behalten und dem jungen Mann mit der Fleecedecke bei Bedarf zu helfen. Als ich wieder gehen wollte, lief er gerade etwas verloren an unserem Haus vorbei und ich fragte ihn, erst auf deutsch, dann auf englisch und französisch, ob ich ihm helfen kann, aber es war schnell klar, dass er mich nicht verstand. Ich musste gehen und ließ ihn, mit meinem Mann und Google Translate, zurück.
Als ich nach einer guten halben Stunde von meinem Physiotermin zurückkam, saß der junge Mann bei uns am Esstisch, aß Äpfel und Bananen aus unserer Obstschale (es war offensichtlich, dass er Hunger hatte) und mein Mann kochte Mittagessen. Er hatte nichts bei sich, außer der Fleecedecke und seinem Handy, das er bei uns auflud. Mein Mann hatte herausgefunden, dass er aus Eritrea kommt und in der Zwischenzeit bei der Erstaufnahmestelle für Geflüchtete angerufen, die meinten, dass sie ihn aufnehmen können. Wir aßen noch zusammen und versuchten uns mit Zeichensprache ein wenig zu unterhalten - wir konnten nur erahnen, was er bis jetzt durchgemacht hatte. Gleichzeitig spürten wir, dass er froh und dankbar war. Nach dem Essen fuhr mein Mann ihn zur Erstaufnahmestelle. Seinen Namen konnte ich mir nicht merken, deshalb wird er für mich immer „der junge Mann mit der Fleecedecke bleiben“ und ich hoffe, dass es ihm gut geht.
Ich frage mich immer wieder, ob Menschen, die herabwürdigend über Geflüchtete und Menschen mit Einwanderungsgeschichte sprechen und urteilen, genauso mit ihnen sprechen und urteilen würden, wenn sie gemeinsam mit ihnen, bei einem Essen, am Tisch sitzen.
Was würden wir tun, wenn wir in einem Land leben würden, in dem Krieg herrscht, wir aufgrund unserer politischen Einstellung oder sexuellen Orientierung verfolgt werden und Gefängnis und Tod fürchten müssen oder der Klimawandel und ungerechter Welthandel unsere Lebensgrundlage und Perspektiven zerstört?
Um die großen Herausforderungen unserer Zeit zu meistern und diesen Planeten zu einem lebenswerten Ort für alle Menschen zu machen, brauchen wir Mitgefühl, Empathie und Solidarität - kraftvolle Ressourcen und Werte, die wir im Yoga kultivieren. Alles ist unteilbar miteinander verbunden. Unser Wohlergehen und unser Leid, hängen mit dem Wohlergehen und dem Leid aller auf diesem Planeten zusammen und daraus folgt: Kein Mensch ist illegal.
"Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen." Artikel 1 der Menschenrechte
Die Praxis geht abseits der Matte weiter, deshalb unterstützen wir als Yogaschule mit einem monatlichen Beitrag SOS Humanity - Zivile Seenotrettung im Mittelmeer, die sich dafür einsetzt, dass kein Mensch auf der Flucht ertrinken muss.
Bild: Hannah Busing | unsplash.com